Prof. Dr. Karl E. Grözinger Die zionistische Idee in Geschichte und Gegenwart als Reaktion auf den Antisemitismus

Prof. Dr. Karl E. Grözinger, em. Univ. Potsdam/Berlin, Founding Member SPME Germany, Affiliated Prof. University of Haifa Abstract The Zionist Idea in Past and Present as a Reaction to anti-Semitism

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Die Hoffnung: Die zionistische Idee in Geschichte und Gegenwart

Israel is a lonely state in this world. It is not only that all European nations give only lip service regarding their solidarity with Israel: The most actual case showing this is the refusal of the German authorities to warrant the return of the Qumran Scrolls which indisputable Jewish cultural heritage. In the same manner may be judged the very popular invocation of the European Jewish-Christian values while forgetting that the Israelite Holy city of Jerusalem is an integral part of this tradition. Europe is betraying its own culture.

Starting with these actual occurrences this paper tries to widen the look on the nature of the antisemitic manifestations in our days by comparison with some views of the early Zionist writers. These Jewish authors experienced anti-Judaism in a plurality of areas and manners and therefore named different causes for the phenomenon of antisemitism and proposed different remedies against it.

In our days we should similarly not confine antisemitism to the classical definitions but should be aware of a permanently changing multiplicity of the antisemitic phenomena as well as their fields of argumentation.

Thus, the obsessive criticism of Israel especially in Europe and the BDS-movement, and maybe even the recent Qumran and Jerusalem cases appear in the light of the early Zionist experiences within the compound of antisemitism.

All members of the SPME should be aware of this iridescent and constantly changing picture of antisemitism when considering means to fight it.

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Eine ironische Vorbemerkung aus aktuellem Anlass

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme, möchte ich Sie vor einem finanziellen Schaden bewahren. Ich empfehle allen von Ihnen, die sich Karten für das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach gekauft haben, diese umgehend zurückzugeben. Denn es ist zu befürchten, dass die Aufführung des Oratoriums in den nächsten Tagen verboten wird – dann ist Ihr Geld verloren. Weshalb das Verbot zu befürchten ist? Weil sogleich im Introitus des Oratoriums der Evangelist Folgendes singt:

»Da machte sich auch auf Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth in das Jüdische Land, zur Stadt David, die da heißet Bethlehem.« Wer den Verbotsantrag stellen wird, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Sie können sich auch den Gang zur weihnachtlichen Christmette ersparen, weil gewiss einige Kirchen in vorauseilender political correctness darauf verzichten werden, das Weihnachtsevangelium im Gottesdienst vorzulesen!

Manche von Ihnen werden nun gewiss denken, der Redner ist leicht verwirrt, oder leidet an einem manischen Wahn! Nein, ich kann Ihnen versichern, dies ist nicht der Fall. Wie ich zu meiner etwas verquer erscheinenden Einschätzung komme? Das ist ganz einfach und inzwischen auch regierungsamtlich. Das Frankfurter Bibel-Museum kann keine Texte aus der berühmten QumranBibliothek mit biblischen Texten ausstellen, weil die deutsche Regierung sich weigert die Qumran-Rollen als »Weltkultur-Erbe« im Besitz des Staates Israel anzuerkennen. Das heißt  Deutschland weigert sich, für die Rückgabe der Texte an Israel die allgemein übliche Immunitätsbescheinigung auszustellen.

Deutschland will sich demnächst mit den jüdischen Städten Speyer, Worms und Mainz als Weltkulturerbe schmücken – hier scheint man nicht solche Skrupel zu haben, wem dieses Kulturerbe gehört. Immerhin haben die Deutschen die Juden allesamt ermordet, mit deren Kulturerbe sie sich nun schmücken wollen.

Doch kehren wir zu den Qumran-Rollen zurück, weil dies ein ganz aktueller Anlass für die Problemstellung unserer gesamten Konferenz ist. Zunächst einige Fakten: Die hebräischen Texte aus Qumran wurden ab etwa 150 v. d. Z. im letzten jüdischen Königreich Juda und in der nachfolgenden römischen Provinz Judea von Juden geschrieben. Vor dem Ausbruch des jüdischen Krieges um 66 n. d. Z. wurden die Rollen von ihren Besitzern auf jüdischem Territorium in Sicherheit gebracht. Sie konnten allerdings nicht mehr geborgen werden, weil die europäisch-römische Macht deren Besitzer im Krieg getötet hatte und gute sechzig Jahre später jede jüdische Selbständigkeit in Judäa vernichtete. Durch die spätere christliche und muslimische Eroberung des ehemals jüdischen Landes wurde aus dem jüdischen Kulturgut – das man heute zurecht als Weltkulturerbe betrachtet – keinesfalls christliches oder muslimisches Kulturgut.

Die Wiederentdeckung der hebräischen Schriftrollen geschah ab 1947 während der britischen Mandatszeit durch illegale beduinische Raubgräber, welche die Texte auf dem Jerusalemer Basar den Meistbietenden verkaufen wollten. So konnte zum Beispiel der syrische Metropolit wichtige Teile des Fundes nach den USA schmuggeln, um sie dort teuer zu verkaufen – was er aber nicht wusste, er verkaufte sie an die Hebräische Universität in Jerusalem, die zuvor schon ein anderes Konvolut erworben hatte. Hier also konnte noch kein „palästinensischer Rechtsanspruch“ entstehen.

Weil die damaligen Fundstellen heute auf Gebieten liegen, welche von der palästinensischen Autonomiebehörde für Palästina beansprucht werden, glauben die deutschen Behörden, die Immunitätsbescheinigung verweigern zu müssen. Es scheint, dass wir hier auf eine oft praktizierte deutsche Rechtsauffassung stoßen. Hier wird nach einem Muster gehandelt, das auch Deutschland selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg praktizierte, nämlich dass Juden ihnen geraubtes Kulturgut zurückkaufen mussten. Ich nenne hier das Beispiel von jüdischen Bibliotheken, die nach der Ermordung der Berliner Juden verwaist waren. Der ostdeutsche Staat hat dieses jüdische Kulturgut nun als sein Eigentum betrachtet und verkaufte die wertvollen hebräischen Buchbestände in den siebziger Jahren für teure Devisen an das westliche Ausland – natürlich mussten Juden, das Kulturgut erneut kaufen, wenn es gerettet werden sollte.1 Auch im Falle der Qumran-Rollen wird jüdisches Kulturgut von Behörden beansprucht, die es damals noch gar nicht gab. Palästina war damals britisches Mandatsgebiet, in dem Juden und Araber gleiche Rechte hatten. Das Verhalten der deutschen Behörden in Sachen der Qumran-Rollen kann man meines Erachtens nur so bewerten: Wenn bei fadenscheiniger Rechtsunsicherheit, eindeutige kulturelle und historische Gewissheiten missachtet werden, ist dies ein massives politisches Bekenntnis, ja, ein Affront gegen alle Juden und ein Land, dessen Freundschaft und Sicherheit bloß als ein wohlfeiles Lippenbekenntnis dient. Deutschland ist nicht der Staat, der eine ideologische Delegitimierung Israels unterstützen darf! Deutschland beteiligt sich mit solchen Entscheidungen an der weltweiten BDS-Bewegung. Ich möchte an dieser Stelle auch die Aufregung um Israels Hauptstadt Jerusalem nennen. Wie gerne beruft man sich in Deutschland und ganz Europa auf das jüdisch-christliche Erbe und Wertesystem. Hat man vergessen, dass Jerusalem ein zentraler Teil dieser jüdisch-christlichen Tradition ist? – Europa gibt sich selbst auf!

Die sich wandelnden Gesichter des Antisemitismus Ich ging auf diese Vorfälle nur ein, um zu zeigen wie wenig sich seit dem Beginn des Zionismus im 19. Jahrhundert wirklich geändert hat. Gewiss manches wurde erreicht, aber das Grundproblem der Judenfeindschaft ist nicht aus der Welt geschafft. Dies wird nur derjenige leugnen, der eine einlinige und beschränkte Vorstellung vom Zionismus hat. Der Zionismus hatte, dies ist richtig, ein einziges zentrales Grundproblem – und das war der jahrhundertealte Hass auf die Juden. Aber dieses eine Grundproblem hat sich auf vielen unterschiedlichen Gebieten und in sehr vielfältiger Gestalt geäußert. Wer nur auf einzelne ausgewählte Erscheinungsformen des Judenhasses blickt, kann sehr leicht zu der Irrmeinung verführt werden, die Ziele des Zionismus seien nun erreicht, weshalb der Zionismus nun als beendet betrachtet werden könne.

Es ist hilfreich an dieser Stelle Theodor Herzl zu zitieren. Herzl hat just diese Einsicht in den unendlichen Einfallsreichtum des Judenhasses als wesentlichen Motiv für die Notwendigkeit des Zionismus anführt. Herzl schrieb in seinem Büchlein Der Judenstaat: »Die Notlage der Juden wird niemand leugnen. In allen Ländern, wo sie in merklicher Zahl leben, werden sie mehr oder weniger verfolgt. Die Gleichberechtigung ist zu ihren Ungunsten fast überall tatsächlich aufgehoben, wenn sie im Gesetze auch existiert. Schon die mittelhohen Stellen im Heer, in öffentlichen und privaten Ämtern sind ihnen unzugänglich. Man versucht sie aus dem Geschäfteverkehr hinauszudrängen: ›Kauft nicht bei Juden!‹ Die Angriffe in Parlamenten, Versammlungen, Presse, auf Kirchenkanzeln, auf der Straße, auf Reisen – Ausschließung aus gewissen Hotels – und selbst an Unterhaltungsorten mehren sie sich von Tag zu Tag. Die Verfolgungen haben verschiedenen Charakter nach Ländern und Gesellschaftskreisen. In Rußland werden Judendörfer gebrandschatzt, in Rumänien erschlägt man ein paar Menschen, in Deutschland prügelt man sie gelegentlich durch, in Oesterreich terrorisieren die Antisemiten das ganze öffentliche Leben, in Algerien treten Wanderhetzprediger auf, in Paris knöpft sich die sogenannte bessere Gesellschaft zu, die Cercles schließen sich gegen die Juden ab. Die Nuancen sind zahllos.«2 Die Reihe der Beispiele lässt sich problemlos bis in unsere Tage verlängern. Im Westen haben wir die obsessive sogenannte Israelkritik und ganz modern die sogenannte BDS-Bewegung, im Orient gehört der Judenhass zum guten Ton, was man auch auf deutschen und Berliner Straßen täglich erleben kann. Gewiss wird manch einer einwenden, Israelkritik und BDS Politik habe nichts mit Antisemitismus zu tun, sondern betreffe nur den Staat Israel und nicht das Judentum als Ganzes.

Verharmlosung des Antisemitismus in der Geschichtswissenschaft Zuweilen beschleicht mich die Befürchtung, dass auch die moderne Geschichtswissenschaft eifrig bemüht ist, das Phänomen des Judenhasses oder des Antisemitismus kleinzureden. Wir Wissenschaftler tun dies mit der uns geläufigen Methode der Kategorisierung und Differenzierung. So zum Beispiel durch die Unterscheidung von mittelalterlichem religiösem Judenhass und modernem Antisemitismus, die kategorial doch klar zu unterscheiden seien. Und schwups, schon hat man den Antisemitismus verkleinert. Hat ihn als zeittypisches Phänomen dargestellt, das eben zeitbedingt war und mit der Zeit dann eben auch verschwindet. Wir haben gerade das Luther-Jahr hinter uns und konnten nicht nur einmal lesen, dass Luthers Einstellungen gegenüber den Juden eben auch vor dem Zeithintergrund zu verstehen seien – also sind diese Auffassungen doch nicht ganz so schlimm. Wen die Nazis, dann Luthers Schrift von den Juden und ihren Lügen weidlich ausnutzten, so ist das eben doch wieder nur ein spezifisches Problem der Nationalsozialisten. Für die jüdischen Opfer sind solche Kategorisierungen und Differenzierungen oder Epochisierungen allemal gleichgültig. Sie waren immer die Opfer, so oder so, gleichgültig mit welchen Argumenten das Judenschlachten begründet wurde. So ist es gewiss nicht verwunderlich, wenn der Jude Theodor Herzl eine andere Betrachtungsweise vorschlägt, nämlich: All die unterschiedlichen Varianten der Bedrängung, Ausgrenzung, Verachtung oder Ermordung der Juden sind im Grunde immer nur neue Masken von ein und demselben Grundübel, dem unerklärlichen Judenhass.

Gesellschaftliche Gründe der „Flexibilität“ des Judenhasses Um diese Sicht Herzls dennoch auch ein wenig wissenschaftlich zu stützen, möchte ich hier den Jerusalemer Philosophen Eliezer Schweid anführen.3 Schweid hat die oben schon angeführte Differenzierung zwischen religiösem Judenhass des Mittelalters und dem modernen rassistischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts wie folgt gesehen. Schweid sagt, der Übergang vom religiös motivierten Antisemitismus zum rassischen oder wirtschaftlichen Antisemitismus im 19. Jahrhundert habe seinen Grund darin, dass die Religion in Europa als gesellschaftliche Macht neutralisiert wurde. Das hatte zur Folge, dass das religiöse Argument gegen die Juden keine Durchschlagkraft mehr besaß. Die Judenfeinde mussten deshalb nach neuen Argumentationsmustern suchen, denen eine Wirkung in der nichtjüdischen Gesellschaft sicher war. Das bedeutet: Was die Religion im antijüdischen Kampf nicht mehr leisten konnte, das sollten nun andere Argumentationsfelder übernehmen, zum Beispiel das Rassenargument und die wirtschaftlich-finanzielle Polemik. Eines dieser neuen Argumentationsfelder, so Schweid, war die Politik. Die Politik wurde nun zum neuen antisemitischen Kampfinstrument. Das bedeute: Die Grundmotivation der Judenfeinde ist dasselbe geblieben, geändert hat sich nur die argumentative Taktik. Die in unserer Gegenwart besonders beliebte neue argumentative Taktik ist, das Politische. Und natürlich lässt sich das Politische Argument am besten auf den jüdischen Staat anwenden. In diesem Sinne sieht Schweid gerade in der modernen weltweiten Israel-Gegnerschaft, ein modernes, besonders wirksames neues Argument für die stets gleichbleibende Motivation des Judenhasses. Hören wir Eliezer Scheid selbst: »Die Gegnerschaft gegen den Staat Israel wurde nunmehr zu einem Element, das den latenten Antisemitismus in den Ländern des Exils befeuerte. Sie hat auch den arabischen Antisemitismus geschaffen. Sie entfachte den Antisemitismus im kommunistischen Block, hat ihn neuerlich [1972/76] in Frankreich wiederbelebt, und wer weiß wie dies weitergehen wird. Noch mehr als dies. Die Gegnerschaft wider den Staat Israel hat dem wiedererwachten Antisemitismus seine ideologischen Muster geliehen. In den Staaten des kommunistischen Blocks und in demokratischen Staaten des Westens wie Frankreich, konnte eine rassistische oder religiöse Ideologie nicht länger eine erfolgversprechende Argumentations-Basis für den Antisemitismus bilden. Für eine solche Rolle taugte nun aber umso mehr eine politische Ideologie, die selbst den reinsten demokratischen und humanistischen Theoretikern als dafür brauchbar erschien. Deshalb erscheint der Antisemitismus nun im politischen Gewand, als Gegnerschaft gegen den Zionismus und den Staat Israel. Das paradoxe Resultat ist, dass der Staat Israel somit de facto sogar die Funktion der De-Normalisierung im Leben des Volkes Israel übernehmen musste – und dies innerhalb wie außerhalb. Der Staat Israel […] erleidet stellvertretend nunmehr auch die Tatsache der tragischen Einsamkeit und zwingt auch die Juden im Exil zu angespannten Beziehungen mit ihrer Umwelt, selbst in solchen Staaten, in denen ihnen der Weg der Integration offen steht.«4 Ich glaube, dieser Zustandsbeschreibung Schweids kann man kaum widersprechen. Es gibt wohl keinen Staat in dieser Welt, so schurkisch er auch sein mag, der einsamer dasteht als der Staat Israel – die einschlägigen UN-Resolutionen sind ein schlagendes Beispiel. Und wer von uns hat nicht in seinem ganz privaten Umfeld erlebt, dass langjährige Freunde plötzlich entfremdet werden, wenn man auf den Staat Israel zu sprechen kommt. Eliezer Schweid stimmt also Theodor Herzl zu und sieht in der Israelfeindschaft nur eine neuerliche Maske des Antisemitismus, zu denen natürlich auch die schon genannte BDS-Bewegung und die obsessive Israelkritik zu zählen sind.

Definitionen des Antisemitismus in Vergangenheit und Gegenwart Der Antisemitismus hat demnach auch in unseren Tagen offenbar viele Gesichter. Man sollte sich deshalb davor hüten, den Antisemitismus nur einseitig zu definieren, oder auf Definitionen zu beschränken, die einem gerade zupasskommen. Denn dabei läuft man Gefahr, das Phänomen zu verharmlosen und kleinzureden wie dies die oben genannte Differenzierung zwischen Mittelalter und Neuzeit tat. Diese Einsicht ist gerade auch für uns im SPME, die wir für den Frieden in Nahost arbeiten, eine wichtige Erkenntnis. Wo der Antisemitismus einseitig definiert wird, vernachlässigt man in seiner Arbeit gegen die Judenfeindschaft Bereiche dieser Judenfeindschaft, die besonders gefährlich, weil verborgen, sein können. Eine nur einseitige Behandlung der Symptomatik des Antisemitismus kann die Problematik nur noch verschärfen, weil man der Auffassung ist, das Nötige zu tun, während man andere Gefahrenherde unbeachtet schwelen lässt.

Ein Blick auf die Geschichte des zionistischen Denkens mag uns zeigen, dass die jüdischen Autoren der Vergangenheit die Ursachen und Ausprägungen des Judenhasses in durchaus unterschiedlichen Bereichen angesiedelt sahen. Jeder dieser Autoren hat spezifische Formen des Judenhasses wahrgenommen und hat aus ihnen die Ursachen des Judenhasses erkennen wollen. Als Schlussfolgerung aus diesen Einsichten haben sie dann auch sehr unterschiedliche Lösungsvorschläge für das Problem vorgetragen, wofür ich sogleich einige Beispiele geben will. Zunächst aber muss man feststellen: Die Erkenntnis, dass nur eine Sichtweise auf den Antisemitismus, hinsichtlich seiner Ursachen, seiner Ausprägungen und der zu ergreifenden Maßnahmen nicht zum Ziel führen kann, hat sich schon im Zionismus vor der Staatsgründung Israels durchgesetzt. Die Spaltung zwischen den sogenannten Territorialisten – um Theodor Herzl – und den Kulturzionisten – geschart um Achad Haam -, hat die zionistische Arbeit lange behindert. Erst als nach dem Tod von Herzl eine Verschmelzung der beiden Flanken im sogenannten »synthetischen Zionismus« unter dem Einfluss von Ḥajjim Weizmann erfolgte, hat die Bewegung richtig Tritt gefasst.5 Schon einer der innerjüdischen Kritiker des Zionismus, der nachherige Präsident der israelischen Bank Leumi, Heinrich Margulies,6 hat die einseitige Herangehensweise der frühen zionistischen Bewegung gegeißelt. Er war der Überzeugung, dass der Zionismus sein Ziel, ein Bollwerk gegen den Antisemitismus aufzurichten nur dann erreichen wird, wenn die unterschiedlichen Beurteilungen der Problematik allesamt ernst genommen und zusammengeführt werden. Margulies sagte dies so: »Will der Zionismus nicht mehr das ganze Volk vertreten, kann er sich nur zum Anwalt seines Parteiinteresses, nicht seines ungeteilten Nationalwillens erheben, so ist er zu eng und muß erweitert werden! Denn es darf nicht sein, daß wir nur eine Partei und eine geistige Strömung im Judentum bleiben, wir müssen dieses selbst umfassen […] aber in dem Sinne, daß wir das ganze Volk, sowohl im Galuth wie in Palästina, als einen ungeteilten nationalen Organismus betrachten und daß wir die nationalen Interessen von allem, was jüdisch ist, wahrzunehmen haben.«7 Margulies vertrat also die Auffassung, der Zionismus werde seine Ziele nur dann erreichen, wenn er alle Seiten der Beurteilung der jüdischen Not ernst nimmt, angefangen vom Politischen über das Gesellschaftliche, das Kulturelle bis hin zum Religiösen. Es ist gerade dies, was man modernen Kritikern des Zionismus, auch jüdischen, vorwerfen muss, dass sie sich einseitig Probleme herausgreifen und behaupten, diese Probleme gebe es nun nicht mehr, weshalb der Zionismus obsolet sei. Gewiss, mit der Gründung des Staates Israel hat der Zionismus für einen Teil der Gesamtproblematik des Antisemitismus eine wichtige Etappe erreicht. Andere Probleme sind allerdings noch keinesfalls gelöst. Eines dieser Probleme – ein neu entstandenes – ist zum Beispiel die Definition dieses nun bestehenden Staates Israel. Ist dieser Staat nur der Staat der israelischen Bürger, oder ist er, wie der Zionismus von allem Anfang an meinte, der Staat des ganzen Volkes Israel, ob nun alle Juden dort lebten oder nicht. Diese originäre zionistische Sicht hat auch die entscheidende Balfour-Declaration übernommen: »H.M. Government views with favour the establishment in Palestine of a national home for the Jewish people, and will use their best endeavours to facilitate the achievement of this object […]«8 Hier ist keine Rede nur von den in Palästina lebenden Juden, sondern vom jüdischen Volk! Mit der Behauptung, der Staat Israel sei nur der Staat der israelischen Bürger, wird dem Zionismus ein zentrales Anliegen streitig gemacht – und damit wird das Volk der Juden wieder in die Zeit vor der Staatsgründung zurückgeworfen. Oder anders gesagt: Mit der Bestreitung der Bedeutung Israels als Staat des jüdischen Volkes wird dem Zionismus sein bisher wichtigster Erfolg streitig gemacht. Damit würde das Rad in den vorstaatlichen Antisemitismus zurückgedreht. Die Juden weltweit würden wieder der Unsicherheit ausgeliefert, im Notfall keinen sicheren und vor allem garantierten Zufluchtsort zu haben! Sollte man zögern, die Beschränkung des Staates Israel auf die israelischen Staatsbürger Antisemitismus zu nennen? Insofern wäre auch dies der Sieg eines neuen Antisemitismus, der den Juden weltweit nicht die staatliche Sicherheit eines jüdischen Staates geben will. Doch kehren wir zu den Problemformulierungen der verschiedenen zionistischen Denker zurück. An ihnen, so glaube ich, können wir erkennen, in welchen Lebensbereichen diese Autoren die Ursachen für die Judenfeindschaft sahen, die auch uns helfen können, solche Ursachen in unseren Tagen wahrzunehmen.

Problembereiche als Ursachen des Antisemitismus – zionistische Sichtweisen Laut den Analysen der wesentlichen zionistischen Autoren sehen sie die Ursachen für den Antisemitismus in sehr unterschiedlichen Gebieten: Da ist die territoriale Problematik, die den Juden als Volk kein eigenes Territorium zubilligt, damit verbunden ist das daraus mangelnde Defizit an Berufs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen wie des Kollektivs in Tätigkeiten, die in dem Recht auf ein eigenes Territorium begründet sind – hierbei spielte natürlich vor allem die Landwirtschaft eine zentrale Rolle, nämlich die Verbundenheit mit dem Ackerboden. Ein anderes Problem ist der Mangel des eigenen Staates und damit das Recht, das öffentliche und das individuelle Leben nach eigenen kulturellen Traditionen und Auffassungen gestalten zu können. Dies betraf insbesondere das Standesrecht und die Bildungspflichten wie auch die Gestaltung des öffentlichen Lebens, etwa der Feiertage oder der Staatssymbole. Eine weitere Ursache des Problems sahen die Zionisten in dem Minderheitenstatus der Juden weltweit, als kulturell und religiös verschiedene Gruppe in Mehrheitsgesellschaften. Damit verbunden sind die wirklichen oder fiktiven Loyalitätskonflikte, seien sie von innen real oder von außen als Vorwurf im Kampf eingesetzt. Ein weiteres Element in diesem Kontext ist die zunächst unspezifische Fremdenfeindlichkeit. Ein weiteres Element ist die Problematik der sozialen Stellung und der damit verbundenen Konkurrenzsituation in Beruf und Politik. Als speziell nach der Emanzipation aufgetretene Problematik nennen diese Autoren die Selbstauflösung der jüdischen Solidarität und die Verwässerung der kulturellen Kohärenz durch die Auflösung der jüdischen Rechts- und Kulturautonomie. Damit verbunden war die Orientierungslosigkeit der jüdischen Individuen und Gruppen in einer kulturell offeneren oder aber majoritär engeren Gesellschaft und damit die Unfähigkeit, dem Spott und der Ablehnung mit Selbstbewusstsein zu trotzen. Ein wichtiger Faktor in diesem Prozess war die Säkularisierung auch der jüdischen Gesellschaft und damit der Verlust der Bindekraft der Religion. Zu all dem Genannten kommen noch zahlreiche weitere Gesichtspunkte. Diese Aufzählung sollte nur zeigen, dass der Zionismus und die in ihm verhandelten Probleme sehr vielfältig und komplex waren und sind. Die Autoren sahen die Ursachen des Judenhasses an sehr verschiedenen Stellen. Und Heinrich Margulies hatte recht, wenn er davor warnt, hier einzelne Elemente als nicht relevant auszuschließen. Aus alledem folgt: Nachdem der Zionismus die Frage des Territoriums und des Staates einer ersten, wenn auch stets bedrohten Lösung zugeführt hatte, war zwar eine wichtige Etappe erreicht, aber noch nicht alle von den Zionisten erörterten Probleme gelöst. Die Staatsgründung alleine hat bekanntlich den Antisemitismus nicht verschwinden lassen. Denn die Frage des Staates war nur eines der von den Autoren benannten Ursachen der Judenfeindschaft. Die anderen Ursachen sind zum Teil noch geblieben, vor allem hat sich auch der Antisemitismus neue Argumentationsfelder geschaffen – ich erinnere an das zur »Israelkritik« und BDS schon gesagte.

Von Zionisten gesehene Ursachen des Antisemitismus Schauen wir nun noch auf einige wenige ausgewählte zionistische Autoren, um das Gesagte zu veranschaulichen. Einer der ersten und bedeutsamsten zionistischen Autoren, der Sozialdemokrat Moses Hess (1812-1875),9 vertrat die Auffassung, dass das Problem der jüdischen Unsicherheit darin bestehe, dass man nicht anerkennt, dass das Judentum eine Nation sei. Hess hatte viele Jahre seines Lebens versucht, ganz in der deutschen Nation aufzugehen, aber dann der Stoßseufzer: »Da steh’ ich wieder nach zwanzigjähriger Entfremdung in der Mitte meines Volkes und nehme Antheil an seinen Freuden- und Trauerfesten, an seinen Erinnerungen und Hoffnungen, an seinen geistigen Kämpfen im eigenen Hause und mit den Culturvölkern, in deren Mitte es lebt, mit welchem es aber, trotz eines zweitausendjährigen Zusammenlebens und Strebens, nicht organisch verwachsen kann.«10 Hess kam zu der Auffassung, dass man die kollektiven Erinnerungen an die Geschichte, auch an das Heilige Land nicht abwerfen könne, kurz dass also das nationale Element bei den Juden, wie bei allen Völkern als ein essentieller Teil des wirklichen Lebens sein müsse. Wo den Juden die Nationalität abgesprochen wird, und wo sie sich diese selbst absprechen entstehe eine Situation, die zwangsläufig zur Judenfeindschaft führt. Eine ähnliche Auffassung vertrat Leon Pinsker,11 der meinte, dass ohne die Anerkennung einer jüdischen Nationalität die Juden niemals anderen Menschen auf Augenhöhe begegnen könnten, die allesamt irgendeiner Nation angehören. Das Resultat dieser Situation erscheint dem Arzt Pinsker zu einer Psychose auf beiden Seiten führen. Erst das Gegenüber von gleichberechtigten Nationen von Juden und Nichtjuden lässt, so Pinsker, eine Gesundung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden erwarten. Auch wenn wir heute die Frage der nationalen Zugehörigkeit anders bewerten mögen, so bleibt doch die Mahnung, dass man diesen Gesichtspunkt bei der Beurteilung der jüdischen Situation nicht vernachlässigen darf. Die Frage der Zugehörigkeit zum Judentum wird sich von innen wie von außen nicht ohne Einbeziehung dieser Frage erörtern lassen – sie wird auch weiterhin eine Konfliktzone bleiben, nicht zuletzt in der Politik des Staates Israel wie auch in der Diaspora. Gestreift habe ich schon die Fragestellung der Kultur. Wo sich Juden der konfessionellen, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zum Judentum verweigern, spielt die kulturelle Definition des Judentums eine zentrale Rolle. Sie wurde im Zionismus vor allem von Achad Haam (alias Ascher Ginzberg, 1856-1927) vertreten.12 Wie sehr die kulturelle Zugehörigkeit oder Ausgrenzung für die Menschen im Negativen wie im Positiven essentiell ist, haben wir erst in der jüngsten Vergangenheit an einer entsprechenden Debatte in Deutschland gesehen, nämlich an der öffentlich geführten Auseinandersetzung um das Schächten und die Beschneidung, die in Deutschland offenbar noch immer nicht ohne antisemitische Untertöne geführt werden kann. Es stellt sich ja auch die Frage, ob es einem deutschen jüdischen Staatsbürger erlaubt sein kann, im Sinne der jüdischen Geschichte und Tradition, das Heilige Land und Jerusalem als Land der Juden zu betrachten – oder aktuell, Jerusalem als jüdische Hauptstadt -, für die er sich einsetzen möchte. Ist dies eine gespaltene Loyalität, die Grund für Ausgrenzung sein kann? Ein ganz anderer Problembereich taucht mit dem Natur- und Kosmos-Mystiker Aharon David Gordon (1856-1922) auf,13 der die nachbiblische jüdische Tradition im Grund ganz verwirft, zugunsten einer individuellen Verwirklichung des Juden bei seiner Hände Arbeit auf dem Boden des Heiligen Landes. Solche Juden entsprechen nicht dem Bild, das man sich in der Welt vom Judesein macht, was zu neuen antijüdischen Missverständnissen führen kann. Der schon genannte Eliezer Schweid sieht gerade in solchem Missverstehen des Judentums die Ursachen des modernen Antisemitismus. So zum Beispiel bei den christlichen Kirchen, die nicht verstehen wollen, dass das Judentum eine Volks-Religion sei, die nicht wie das Christentum eine Universalreligion sein will. Schweid meint: »Will ein Christ das Judentum wirklich verstehen und seine Eigenart akzeptieren, muss er als gläubiger Christ die Grundüberzeugung seiner eigenen religiösen Weltanschauung überwinden – wozu gegenwärtig nur wenige herausragende geistig mutige Menschen bereit sind.«14 Von ganz anderer Seite gibt es analog dieselben Missverständnisse. Die internationale areligiöse »Linke« wirft nämlich dem Judentum ein Doppeltes vor, zum einen, dass es Religion sein will und zum andern, dass es sich als Nation versteht. Aus der Sicht dieser linken Gruppierungen – so Schweid-, ist die jüdische Religion wie auch der jüdische Nationalismus überholt und obsolet. Darum stehen sie beidem feindlich und ablehnend gegenüber. Juden, die sich so definieren, können von dieser Seite nur mit Ablehnung rechnen, weil sie nicht dem Bild vom kosmopolitisch entwurzelten Juden der frühsozialistischen Zeit entsprechen.

Ich will die Positionen der verschiedenen zionistischen Denker hier abbrechen. Ich wollte nur zeigen, dass die von ihnen aufgezeigten Probleme auch noch heute aktuell sind. Die vielschichtigen Themen und Problemfelder dienen auch heute noch als Argumente für den Israel- und Judenhass. Diese Aufzählung und die oben mit Herzl gemachte Bemerkung, dass der Antisemitismus überaus einfallsreich ist, er auch für Bereiche, in denen anscheinend schon Bollwerke errichtet wurden, neue Einfallstore zu öffnen vermag. Wir können daraus lernen, dass man in der Sicht auf das, was als Antisemitismus zu betrachten ist, sich nicht verblenden lassen darf. Nicht die alten Definitionen bestimmen, was Antisemitismus ist, auch nicht die Differenzierungen der Historiker. Antisemitismus zeigt sich da, wo sich der jahrtausendealte antijüdische Reflex regt, der sich in jedem Zeitalter und unter allen Umständen neue Argumente einfallen lässt, um seinen alten antijüdischen Instinkt zu verwirklichen. Das heißt: Da der Antisemitismus eine sich stets wandelnde Hydra ist, werden die durch ihn verursachten Probleme, die betroffenen Problembereiche und die zu suchenden Lösungen sich stets verändern. Ein endgültiges Ziel ist nie zu erreichen. Man kann demnach die Symptome nur im Zaum halten, endgültig ausrotten wird man sie nicht können. Es ist wie bei einer chronischen Krankheit, man muss stets versuchen, ihre Symptome einzudämmen, ohne dass man sie wirklich heilen kann. Zum Schluss soll an die auch von der deutschen Bundesregierung angenommene Definition des Antisemitismus erinnert werden: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« Wie ist angesichts dessen die eingangs genannte Qumran-Frage zu sehen?

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1 Gemeint ist Beispiel als Beispiel die Bibliothek der ehemals Berlinischen Veitel Heine Ephraimsche Lehranstalt, welche von der DDR zum Devisengewinn ins Ausland verkauft wurde und die von Rabbiner Yehuda Aschkenasy Stück für Stück gerettet wurde. Von ihm habe ich die Bibliothek dann für die Universität Potsdam erworben, wo sie heute wieder den jüdischen Studien zugänglich ist. Dazu siehe K.E. Grözinger, Die Stiftungen der preußisch-jüdischen Hofjuweliersfamilie Ephraim und ihre Spuren in der Gegenwart, Wiesbaden 2009.

2 Siehe Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus und Schoah, S. 139; Th. Herzl, Der Judenstaat, LeipzigWien 1896, S. 21.

3 Ausführlich in Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4. S. 441-466.

4 Bei Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 445-446.

5 Dazu und zum Folgenden siehe Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4.

6 Siehe Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 409-413.

7 Siehe bei Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 411.

8 Bei Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 151.

9 Zu ihm siehe Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 65-117.

10 Siehe bei Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 75.

11 Siehe Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 118-134.

12 Siehe, Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 159-213. 13 Siehe Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 214-286. 14 Bei Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 447, E. Schweid, Le’umiyut yehudit, Jerusalem 1972, S. 24.